Frau Claus, die steigenden IV-Zahlen in Bezug auf psychische Krankheitsbilder machen betroffen und ratlos. Sehen Sie im Kontext der betroffenen Personen, die Sie kennengelernt haben, Möglichkeiten, wie seitens Arbeitgebenden entsprechende Krankheiten hätten verhindert werden können?

Die steigenden IV-Zahlen sollten uns alle anregen, nicht nachzulassen, über präventive Ansätze nachzudenken. In vielen Betrieben wird bereits sehr viel getan. Arbeitgebende können einiges bewirken, wenn sie frühzeitig auf Belastungen reagieren. Besonders KMU können mit Nähe und Flexibilität grosse Unterschiede machen. Regelmässige Gespräche, angepasste Arbeitszeiten und eine offene Unternehmenskultur sind wirksame Massnahmen. Auch Schulungen für Führungskräfte sind essenziell. Diese müssen Belastungen erkennen, ansprechen und Unterstützung anbieten können.

Grosse Unternehmen können darüber hinaus systematische Programme umsetzen, die darauf abzielen, die Arbeitsorganisation zu verbessern, den Umgang mit Belastungen zu erleichtern und individuelle Ressourcen zu stärken. Dabei genügt es jedoch nicht, einmalig ein halbtägiges Resilienz-Training anzubieten, mit dem Ziel, die Belegschaft damit widerstandsfähiger zu machen. Vielmehr sollten Unternehmen darauf achten, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden nachhaltig gefördert wird – etwa durch klare Prozesse, eine gerechte Verteilung der Arbeitslast und professionelle, zeitgemässe Führungsarbeit.

Um psychische Erkrankungen zu verhindern ist es zugleich entscheidend, dass im Krisenfall nicht nur warme Worte seitens der Vorgesetzten gesendet werden, sondern konkrete Entlastung geschaffen wird. Es genügt nicht, empathisch zu reden und darauf zu hoffen, dass sich die betroffene Person von selbst wieder aufrappelt, während alles beim Alten bleibt. Führungskräfte müssen beherzt und mutig handeln – sei es durch eine kurzfristige Umverteilung von Aufgaben, Konfliktmanagement, das Einleiten professioneller Unterstützung und/oder das gemeinsame Erarbeiten von tragfähigen Massnahmen.

Wichtig ist ausserdem, dass psychisch angeschlagene Mitarbeitende, die oft als «schwierig» oder «seltsam» wahrgenommen werden, nicht ausgeschlossen werden. Stattdessen braucht es das echte Gespräch mit ihnen und die Bereitschaft, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Nur so lassen sich Krisensituationen verhindern, die andernfalls in einer Krankschreibung enden könnten. Unabhängig von der Grösse des Unternehmens ist eine wertschätzende Unternehmenskultur, in der Belastungen offen angesprochen werden können, der Schlüssel zum Erfolg.

«Es genügt nicht, empathisch zu reden und darauf zu hoffen, dass sich die betroffene Person von selbst wieder aufrappelt, während alles beim Alten bleibt.»


Für Schweizer KMUs kann es eine Herausforderung sein, ein ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement aufzubauen, da die Ressourcen dafür oft fehlen. Welche niederschwelligen und einfach zu implementierenden Verbesserungsmöglichkeiten empfehlen Sie Unternehmen in Bezug auf Prävention von psychischen Krankheiten?

Auch mit begrenzten Ressourcen können KMUs mit einfachen, gut durchdachten Massnahmen viel für die Prävention tun, ohne aufwendige Programme implementieren zu müssen. Eine offene Kommunikationskultur ist ein wichtiger erster Schritt. Dies erfordert Empathie und den Mut, heikle Themen anzusprechen.

Regelmässige Pausen, flexible Arbeitszeiten und klare Aufgabenverteilungen können ebenfalls grosse Wirkung zeigen. Ein Betrieb, der Mitarbeitenden nach belastenden Projekten mehr Flexibilität einräumt, zeigt Wertschätzung und verbessert das Wohlbefinden. Auch kleine Gesten wie ein persönliches Dankeschön oder das Ausdrücken von ehrlichem Interesse können entscheidend sein. Diese Massnahmen sind einfach umzusetzen und beweisen, dass Prävention nicht immer grosse Budgets erfordert, sondern vor allem eine bewusste Haltung.

Hier ein Beispiel aus einem KMU: In einem familiengeführten Betrieb wurde festgestellt, dass sich die Mitarbeitenden nach besonders intensiven Arbeitswochen zunehmend gestresst und erschöpft fühlten. Die Geschäftsleitung führte daraufhin eine einfache, aber wirkungsvolle Massnahme ein: Mitarbeitende teilten sich in Teams ein, die sich gegenseitig bei Belastungsspitzen unterstützen konnten. Zudem wurden nach Abschluss grösserer Projekte gezielt «Regenerationstage» eingeführt, an denen Mitarbeitende einen flexiblen zusätzlichen Tag frei nehmen konnten, um sich zu erholen. Parallel dazu organisierte der Betrieb vierteljährliche Workshops zu den Themen «Stressbewältigung» und «Arbeitsorganisation», die von einer externen Fachperson geleitet wurden. Diese Kombination aus strukturellen Anpassungen und Weiterbildungen führte zu einem spürbaren Rückgang von Überlastungsanzeigen und stärkte das Wohlbefinden der Belegschaft.

Wie wichtig sind soziale und psychologische Kompetenzen von Führungskräften in Bezug auf Verhinderung von psychischer Arbeitsunfähigkeit?

Führungskräfte brauchen neben fachlicher Expertise und Führungskompetenz vor allem Sozialkompetenz, um mitzuhelfen, psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit zu verhindern. Erfolgreiche Führung erfordert «Beidhändigkeit»: sachlich zu entscheiden und gleichzeitig empathisch auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden einzugehen. Vorgesetze müssen Belastungen frühzeitig erkennen, klar kommunizieren, Konflikten nicht aus dem Weg gehen und ernsthaft für Entlastung sorgen können – ohne dabei die Rolle von Psychologinnen oder Psychologen zu übernehmen. Diese Aufgabe gehört klar in die Hände von Fachkräften.

«Vorgesetze müssen Belastungen frühzeitig erkennen.»

Ebenso wichtig ist jedoch, dass auch belastete Mitarbeitende aktiv ihren Beitrag leisten, um ihrerseits zu versuchen, eine Arbeitsunfähigkeit zu verhindern. Die Basis hierfür ist eine Unternehmenskultur, die von Vertrauen, Transparenz und gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist. Studien zeigen, dass Mitarbeitende in einem solchen Umfeld eher bereit sind, ihre Belastungen frühzeitig anzusprechen und gemeinsam mit Führungskräften an Lösungen zu arbeiten.

Im Krisenfall sind Führungskräfte zudem oft auf den Rückhalt ihrer eigenen Vorgesetzten angewiesen. Nur mit den notwendigen Ressourcen und ausreichendem Spielraum können sie nachhaltig entlasten und präventiv handeln.

Ein Beispiel aus meiner Arbeit zeigt, wie wichtig dieses Zusammenspiel ist: Eine Führungskraft erkannte die Erschöpfung einer Mitarbeiterin frühzeitig und handelte schnell: Gemeinsam mit dem HR und unter Einbezug des nächsthöheren Vorgesetzen wurde zügig externe Unterstützung für die betroffene Kollegin sowie ihr Team organisiert. Die Betroffene erhielt ein massgeschneidertes Coaching. Im Rahmen der Teamentwicklung und im Gespräch mit dem Vorgesetzten wurden schwelende Konflikte endlich aufgelöst. Diese enge Zusammenarbeit ermöglichte eine nachhaltige Lösung, die alle Beteiligten einbezog. Der Fall verdeutlicht, dass entschlossenes Handeln sowie die Einbindung aller Beteiligten und Fachpersonen der Schlüssel zur Prävention sind.

Das mag auf den ersten Blick nach viel Aufwand klingen, ist jedoch langfristig deutlich kostengünstiger als eine Langzeitkrankschreibung – einschliesslich der Herausforderungen, die durch den Ausfall einer Kollegin oder eines Kollegen im Betrieb entstehen. Das Beispiel zeigt uns auch, dass komplexe Probleme, zu denen seelische Probleme am Arbeitsplatz zweifelsfrei gehören, nicht mit oberflächlicher „Pflästerli-Politik“ oder Schnellschüssen gelöst werden können.

Welche Massnahmen helfen konkret, wenn eine Krankheit zwar noch nicht vorliegt, sich aber Symptome und Auffälligkeiten am Arbeitsplatz bemerkbar machen? Inwiefern können Arbeitgebende in dieser Situation Arbeitnehmende unterstützen und präventiv handeln?

Frühzeitig auf Symptome zu reagieren, ist entscheidend. Führungskräfte sollten aufmerksam sein und das Gespräch suchen, um den Betroffenen Raum zur Reflexion zu geben. Fragen wie „Wie geht es dir wirklich?“ oder „Was müsste passieren, damit du dich bei uns wieder wohler fühlst?“ können helfen, Vertrauen aufzubauen und eine Grundlage für offene Gespräche zu schaffen.

«Frühzeitig auf Symptome zu reagieren, ist entscheidend. Führungskräfte sollten aufmerksam sein und das Gespräch suchen, um den Betroffenen Raum zur Reflexion zu geben.»

Gezielte Entlastungen wie angepasste Arbeitszeiten, ein sinnvoller Mix aus Teamarbeit und Homeoffice oder vorübergehende Änderungen in den Aufgabenbereichen können dabei helfen, Überlastungen abzubauen. Externe Beratung oder ein vertrauliches Coaching-Angebot bieten zusätzlich wertvolle Unterstützung, um einer Eskalation vorzubeugen.

Hier ein weiteres konkretes Beispiel: In einem mittelständischen Unternehmen bemerkte eine Führungskraft, dass ein Mitarbeiter zunehmend zurückgezogen und unkonzentriert wirkte. Anstatt abzuwarten, suchte die Führungskraft das Gespräch und bot Unterstützung an. Gemeinsam vereinbarten sie vorübergehende Massnahmen, wie die Reduzierung von belastenden Aufgaben und flexiblere Arbeitszeiten. Zusätzlich wurde ein erfahrener interner Kollege hinzugezogen, zu dem der Mitarbeiter Vertrauen hatte. Dieser half ihm, seine Situation zu reflektieren und neue Strategien zu entwickeln. Parallel informierte die Führungskraft das Team transparent über die Massnahmen, ohne dabei die Privatsphäre des Mitarbeiters zu verletzen.

Durch dieses proaktive und unterstützende Vorgehen gelang es, den Mitarbeiter im Arbeitsprozess zu halten, seine Belastung zu reduzieren und sein Vertrauen in das Unternehmen zu stärken. Frühzeitige, empathische Reaktionen dieser Art zeigen nicht nur der betroffenen Person, sondern dem gesamten Team, dass ihre Gesundheit ernst genommen wird. Sie fördern eine offene Kommunikationskultur und schaffen ein Arbeitsumfeld, in dem Herausforderungen frühzeitig angegangen werden können.

 
Über Sabine Claus:
Nach dem Studium der Betriebswirtschaft startete sie ihre berufliche Laufbahn zunächst im Produktmanagement und Einkauf eines grossen Detailhandelsunternehmens. Nach weiteren Stationen als Kommunikations- und später Vertriebsleiterin liess sie sich ab dem Jahr 2001 zur Management-Trainerin ausbilden und erlangte berufsbegleitend den Master of Advanced Studies in Coaching und Organisationsberatung am renommierten Institut für Angewandte Psychologie in Zürich. Seither ist sie als Organisationsberaterin, Trainerin und Coach für ihre Kunden zahlreicher Branchen und Hierarchieebenen im In- und Ausland aktiv. Die erfahrene Unternehmerin hat die Praxis nie verlassen und arbeitet parallel als Teamleiterin in einer psychiatrischen Klinik. www.sabineclaus.ch

Die PK Rück trägt mit Präventionsangeboten und Wiedereingliederungsmassnahmen aktiv dazu bei, die Neuverrentungsquote zu senken. Unser Kompetenzzentrum bietet Kunden effiziente Unterstützung bei der Prävention sowie der beruflichen und sozialen Wiedereingliederung.