Die Digitalisierung prägt unseren Arbeitsalltag ebenso wie unsere Freizeit. Der digitale Wandel bringt mehr Effizienz mit sich – und mehr Stress. Andreas Canziani, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Psyche.

 

Die Phänomene Burnout und Digitalisierung haben zeitgleich Breitenwirkung gewonnen – Zufall oder gibt es da einen Zusammenhang?

Das stimmt, die Ausweitung der Diagnose Burnout fiel ziemlich genau mit dem Durchbruch der Digitalisierung zusammen. Es würde aber zu kurz greifen, die starke Zunahme von langandauernden Krankschreibungen aufgrund von psychischen Krankheiten alleine mit der Digitalisierung zu erklären. Da spielen auch soziale Faktoren, Veränderungen in der Rentenpolitik und in der psychiatrischen Diagnostik mit rein. Doch es gibt in der digitalisierten Arbeitswelt sicherlich einige ganz konkrete Risiken, die Burnout-Entwicklungen fördern können.

Zum Beispiel?

Die arbeitspsychologische Forschung zeigt, dass unser Wohlbefinden bei der Arbeit stark mit unseren psychischen Grundbedürfnissen zu tun hat, etwa dem Bedürfnis nach Bindung und Akzeptanz. Sobald diese Bedürfnisse über längere Zeit nicht bedient werden, können sich chronische Symptome entwickeln, die eine Burnout-Entwicklung begünstigen. Und bei der digitalen Kommunikation fehlt es meist an nonverbalen Signalen, wie sie in einem Gespräch üblich sind. Dadurch kann zum Beispiel das Bedürfnis nach Wertschätzung oder Aufgehoben-Sein zu kurz kommen.

 

«Wir kommen kaum noch dazu, uns zu fragen: Stimmt das wirklich? Finde ich das überhaupt sinnvoll? Oder: Ist das relevant für mich?»

 

Was macht die Digitalisierung mit unserer Psyche?

Die Digitalisierung hat in psychologischer und neurologischer Hinsicht durchaus positive Aspekte. Zum Beispiel fördert die aktive Teilnahme am Internet die Kreativität. Doch der konstante digitale Input lenkt uns auch ab und zerstreut uns. Das kann negative Folgen haben. Zum Beispiel wird unsere Wahrnehmung oberflächlicher. Hinzu kommt ein gewisses Manipulationsrisiko: Bei der Realitätsprüfung von Informationen im Internet sind wir tendenziell weniger kritisch als in der «realen» Welt. Zusätzlich verschwindet das kollektive Verantwortungsgefühl zunehmend, da Interessensgruppen immer kleiner und spezifischer werden.

Wir alle sind einer Informationsflut ausgesetzt. Wie kommt unser Gehirn mit dieser Unmenge an Reizen zurecht?

Unser Hirn muss aus den vielen zur Verfügung stehenden Reizen dauernd ein Gefühl der Orientierung und ein Realitätsempfinden generieren. Eine Bewertung der Informationen kann jedoch nur noch oberflächlich stattfinden, wenn ständig neue Reize auf uns einprasseln. Damit wir die vielen Informationen überhaupt noch verarbeiten können, sind wir gezwungen, eine vertiefte Prüfung zu unterbinden. Wir entscheiden immer unreflektierter und kommen kaum noch dazu, uns zu fragen: Stimmt das wirklich? Finde ich das überhaupt sinnvoll? Oder: Ist das relevant für mich? Die Konsequenz sind häufigere Fehlleistungen und eine zunehmende Entfremdung von den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen.

 

«Wer ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl hat und es nicht schafft, sich abzugrenzen, landet rasch in einer Überforderungssituation.»

 

Die Digitalisierung ermöglicht zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten. Ist das für Arbeitnehmer eher Fluch oder Segen?

Das hängt stark von der Persönlichkeit und von der Haltung zur Arbeit ab. Es braucht bestimmte Voraussetzungen, damit wir mit dieser Flexibilität klarkommen. Ein zentraler Punkt ist Selbstdisziplin. Heutige Arbeitnehmer müssen die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aus eigener Kraft schaffen. Diese Abgrenzung ist die grösste Herausforderung der Digitalisierung. Wer es nicht schafft, sich abzugrenzen und ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl sowie hohe Ansprüche an sich selbst hat, landet rasch in einer tendenziell chronischen Überforderungssituation.

Wie kann der Arbeitgeber dem Burnout entgegenwirken?

Die meisten Burnout-Entwicklungen gehen auf eine ungesunde Haltung gegenüber der Arbeit zurück. Deshalb sind die Soft-Faktoren bei der Prävention entscheidend. Vorgesetzte müssen potenzielle Sorgen und Ängste erkennen, ansprechen und auffangen können. Wenn jemand zum Beispiel um seinen Job bangt, weil er glaubt, seine Leistung sei ungenügend, sollte man ihn ehrlich über den Ausseneindruck und die kritischen Bereiche informieren. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, was man an der Person schätzt.

 

«Der Fokus liegt vielfach auf den Symptomen statt auf den Ursachen. Oft steckt hinter einer Burnout-Diagnose eine Mobbing-Situation.»

 

Gibt es bereits digitale Tools für die Früherkennung von Burnout?

Ja, es gibt immer mehr Online-Tests. Auch wir bei der PK Rück testen momentan ein entsprechendes Tool. Dabei werden Burnout-Trigger auf verschiedensten Ebenen erfasst. Dazu gehören stabilisierende Faktoren wie etwa die Sinnhaftigkeit der Arbeit, Kontrollierbarkeit und Selbstbestimmung, oder auch die Bindung im Team. Solche Tests helfen durchaus, differenziertere Diagnosen zu stellen. Allerdings bringt die digitale Diagnostik auch die Gefahr mit sich, dass wir uns mit einer Checklisten-Evidenz begnügen. Mit einem Online-Test allein ist es nicht getan. Wichtig ist das Gesamtverständnis – und dafür braucht es Gespräche, idealerweise auch mit dem Arbeitsumfeld der Betroffenen.

Die Burnout-Fälle haben stark zugenommen. Wird die Diagnose teilweise vorschnell gestellt?

Ich denke schon. Das Problem ist, dass der Fokus vielfach auf den Symptomen statt auf den Ursachen liegt. Oft steckt hinter einer Burnout-Diagnose eine Mobbing-Situation. Schliesslich ist es meist einfacher, den Betroffenen als Opfer der grossen Arbeitslast darzustellen und ihn in die Therapie zu schicken als einen unterschwelligen Teamkonflikt zu lösen.

 

Dr. med. Andreas Canziani

Andreas Canziani schloss sein Medizinstudium 1993 mit dem Doktorat an der Universität Zürich ab. Nach einer Anstellung als Assistenzarzt für Psychiatrie und Innere Medizin sowie als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich eröffnete er im Jahr 2000 seine eigene psychiatrische Praxis. Als Vertrauensarzt SGV und zertifizierter medizinischer Gutachter SIM ist er auf Fragen des beruflichen Gesundheitsmanagements, Stress und Burnout-Prävention sowie Unternehmensentwicklung spezialisiert. Seit 2012 ist Andreas Canziani beratender Arzt der PK Rück.